Anhörung des Europäischen Parlaments anläßlich der G7-Sitzung "Informationsgesellschaft" Februar 1995

Andy Mueller-Maguhn / Chaos Computer Club e.V.

Thesen zur Informationsgesellschaft

 

Praeambel

Die elektronischen Netzwerke werden schon bald ein fester Bestandteil des oeffentlichen Lebens in der Informationsgesellschaft sein. Mit der Entwicklung der Datenautobahnen durch Industrieunternehmen ist es aber nicht getan.

Voraussetzung fuer eine demokratische Informationsgesellschaft und somit Pflicht der staatlichen Organe ist die Einrichtung von Daten-Buergersteigen, die als niederschwellige Netzwerkzugaenge einen freien Zugang fuer jeden Buerger erlauben. Oeffentliche Einrichtungen in Netzwerken muessen ueber diese Datenbuergersteige erreichbar sein.

Die Teilnahme an der Informationsgesellschaft darf nicht eine Frage des Geldes sein. Jedem muss die Moeglichkeit offenstehen, sich ins oeffentliche Leben einzubringen, sich als Informationsgeber frei auszudruecken und sich frei zu informieren.

Grundsaetzliches zum Chaos Computer Club

Der Chaos Computer Club ist eine galaktische Gemeinschaft von Lebewesen, unabhaengig von Alter, Geschlecht und Rasse sowie gesellschaftlicher Stellung, die sich grenzueberschreitend fuer Informationsfreiheit einsetzt und sich mit den Auswirkungen von Technologien auf die Gesellschaft sowie das einzelne Lebewesen beschaeftigt und das Wissen um diese Entwicklung foerdert. Er entstand 1981 als Gespraechskreis von Computerexperten, die elektronische Kommunikationsmoeglichkeiten diskutierten, ist seit 1984 Herausgeber der Zeitschrift "Datenschleuder" und Veranstalter des jaehrlich stattfindenden "Chaos Communication Congress". Bekannt wurde er als Sprachrohr der Hackerszene, die in mehr oder weniger spektakulaeren Aktionen Systeme der Datensicherheit und des Datenschutzes auf ihre Integritaet pruefte. Seit 1986 ist der Chaos Computer Club eingetragener Verein mit Sitz in Hamburg. Er verfuegt ueber ein Netz von ehrenamtlichen Mitarbeitern und Mitgliedern, die in verschiedenen Staedten regelmaessige oeffentliche Treffs, Pressearbeit, Teilnahme an Veranstaltungen und Podiumsdiskussionen und Arbeit in Computernetzen leisten.

Struktur:

1. Bestandsaufnahme

2. Gegenwaertige Planungen und zukuenftige Probleme

3. Visionen fuer eine demokratische Informationsgesellschaft - notwendige Massnahmen und Forderungen

1. Bestandsaufnahme Zugaenge, Kostenstrukturen, Problembereiche

- Telekommunikationsinfrastruktur

Durch die Privatisierung der Netzbetreiber sind die Kommunikationswege zu einem Wirtschaftsgut geworden, obwohl die gesellschaftliche Bedeutung steigt und der Zugang zu Netzwerken ueberlebensnotwendig geworden ist. Es gibt kein Recht auf einen Telefonanschluss mehr, sondern dies wird zunehmend zu einer wirtschaftlichen Frage. Wer keinen Telefonanschluss hat, ist sozial isoliert und hat deutliche Nachteile, z.B. bei der Suche nach einem Arbeitsplatz - er ist von der "Informationsgesellschaft" praktisch ausgeschlossen.

- Umgang mit Kommunikationsmitteln

Schueler, Jugendliche und Arbeitslose koennen aufgrund ihrer wirtschaftlichen Lage den Umgang mit Computern - als Zugangswerkzeugen zu Netzwerken - meist nur ueber die Benutzung illegaler Kopien urheberrechtlich geschuetzter Programme ("Raubkopien") erlangen. Unberechtiger Besitz urheberrechlich geschuetzter Software ist durch EU-Novellierung nicht mehr Zivil-, sondern Strafrecht. Das heisst, die meisten Computerbesitzer sind dadurch Straftaeter. Eine Qualifikation im Umgang mit Computern ist aber schon auf dem heutigen Arbeitsmarkt ein wesentlicher Faktor; dem technischen Nachwuchs werden dadurch Weiterbildungsmoeglichkeiten erschwert.

- Datenschutz und Informationelle Selbstbestimmung

Durch den Einsatz elektronischer Datenverarbeitung bei Betrieben, Behoerden, Banken etc. hinterlassen Menschen schon heute erhebliche "Datenspuren". Kaum jemand weiss, was wo ueber ihn gespeichert ist. Die gesetzlichen Grundlagen, dies zu erfahren, sind unzureichend. Durch die Ungewissheit ueber diese Datenbestaende ist eine Hemmschwelle bei der Inanspruchnahme von Grundrechten - wie beispielsweise der Versammlungsfreiheit - gegeben. Die bei der Benutzung von Kommunikationsdienstleistungen anfallenden Datenmengen koennen dazu missbraucht werden, Persoenlichkeitsprofile zu erstellen, um damit u.a. zielgerichtete Manipulation von Kauf- entscheidungen zu betreiben. Das Recht auf die informationelle Selbstbestimmung ist eine wesentliche Voraussetzung fuer die Freiheit des Individuums in der Informationsgesellschaft. Das schliesst ein europaweites Akteneinsichtsrecht (1) mit ein, um einen Einblick in behoerdliche Datensammlungen ueber die eigene Person zu erlangen. Um den Buergern der europaeischen Gemeinschaft ein informationelles Selbstbestimmungsrecht zu garantieren, bedarf es jedoch nicht nur einer gesetzlichen Willensbekundung, sondern einer europaeischen Datenschutz-Instanz mit weitreichenden Befugnissen, die den Buergern dieses Recht - vor allem die Moeglichkeit, unzulaessige Datenspeicherungen zu loeschen - auch gegenueber Unternehmen und Behoerden durchzusetzen hilft. Nationale Vertretungen in allen EU-Staaten muessen als Anlaufstellen fuer Buergerfragen dienen und kostenlos die Durchsetzung der Rechte ermoeglichen.

(1)vergleichbar dem amerikanischen "Freedom of information act"

2. Gegenwaertige Planungen und zukuenftige Probleme

- Wenn Kommunikationswege immer mehr zu einem Wirtschaftsgut und Information immer mehr zu einer Ware wird, kann sich nur noch derjenige umfassend informieren, der entsprechend dafuer zahlen kann.

- Durch die Kommunikationspreise besteht darueberhinaus die Gefahr einer Spaltung der Gesellschaft in Informationsproduzenten und Informationskonsumenten. Dies wird zusaetzlich durch den Bildungsnotstand in bezug auf Kommunikationstechnologie und eine mangelnde allgemeine Verfuegbarkeit von Technologie und Know-How beguenstigt.

- Durch die einseitige Aufnahme von Informationen ueber elektronische Kommunikationsmittel, wie beim Konsumfernsehen, kommt es zur Bildung von virtuellen persoenlichen Realitaeten bzw. Weltsichten, die stark einschraenkende Wirklichkeitswahrnehmungen sind. Schon jetzt leben grosse Teile der Gesellschaft in virtuellen persoenlichen Realitaeten, in denen gemeinschaftliche Erfahrungen sich auf gemeinsamen Konsum beschraenken. Telearbeit fuehrt zu einer massiven sozialen Isolation und zu einer Lebensform, die soziale Kontakte erschwert.

- Mangelnde Beruecksichtigung von Datenschutz und Fragen der Sicherheit bei der Konzeption von Netzwerken kann katastrophale Folgen haben. Nur noch wenige Experten koennen bei Problemen Abhilfe schaffen. Oft sind die Betreiber von Telekommunikationssystemen ahnungslos ueber das, was ihn ihren Anlagen geschieht, wie etwa bei der Deutschen Telekom. Unverschluesselte Uebertragung von Kommunikationsverbindungen und freie Verfuegbarkeit und Speicherung von Verbindungsdaten ermoeglichen Missbrauch aller Art. Technisch sind Kommunikationssysteme, die eine Vertraulichkeit der Teilnehmerdaten gewaehrleisten moeglich und oekonomisch vertretbar(2). Die Verwendung von Hard- und Software die Datenschutz und Privatsphaere gewaehrleisten, muss bei allen Telekommunikations- anbietern Pflicht werden um Missbrauch von vornherein auch technisch unmoeglich zu machen. Datenschutz kann wirksam nicht allein durch Gesetze geregelt werden.

- Um eine Vertraulichkeit von ueber Netzwerk uebertragenen Daten zu gewaehrleisten bedarf es einer Verschluesselungsfreiheit. Nur so ist ein effektiver Schutz von Geschaeftsgeheimnissen und Privatsphaere moeglich.

(2) Info: "Datenschutz garantierende offene Kommunikationsnetze" A.Pfitzmann / Informatik-Spektrum (1988)11:118-142

3. Visionen fuer eine demokratische Informationsgesellschaft - notwendige Massnahmen und Forderungen

- Notwendigkeit eines Grundrechts auf Kommunikation, Information und Informationsaustausch; die Moeglichkeit, Informationssender in frei zugaenglichen elektronischen Netzwerken zu sein, ist fundamentales Selbstverwirklichungsrecht in der Informations- gesellschaft.

- Umgang mit dem PC als Kommunikationsinstrument muss - ebenso wie lesen, schreiben und Englisch sprechen - zum europaeischen Bildungsstandard gehoeren; Telefon- und Netzwerkanschluesse muessen im Rahmen der Nachwuchsfoerderung zur experimentellen Verfuegung stehen, um einen kreativen Umgang mit der neuen Technologie zu ermoeglichen. Der Mindest-Bildungsstandard muss Informationsbeschaffung, Informationsverteilung und Umgang mit Electronic Mail umfassen.

- Anerkennung und Foerderung bereits bestehender dezentraler Buergernetze mit demokratischen Strukturen(3), die Vorbildcharakter fuer oeffentliche Netzstrukturen haben sollten.

- Es muessen oeffentliche Netzwerkzentren eingerichtet werden. Die Erstellung von Netzangeboten und die Nutzung entsprechender technischer Moeglichkeiten und Zugaenge muss jedem Buerger hier kostenfrei ermoeglicht werden.

- Software muss fuer nicht-kommerzielle Anwendungen kostenlos nutzbar sein; insbesondere Schueler, Studenten, Arbeits- und Mittellose muessen die Moeglichkeit haben, sich Qualifikation am Computer anzueignen, um ueberhaupt eine Chance auf dem Arbeitsmarkt zu haben. Die Verfolgung von Urheberechtsdelikten sollte von der Art der Nutzung abhaengig gemacht werden. Produktionsmittel duerfen Geld kosten, Lernmittel nicht.

- Oeffentliche Bibliotheken muessen ihr Angebot auf die elektronisch gespeicherten Wissendatenbanken erweitern. Eine Grundversorgung mit elektronisch gespeichertem Wissen ist notwendig, um eine Bildungs- Kluft zwischen Computerbesitzern, die es sich leisten koennen und solchen, die keinen Netzzugang haben zu vermeiden.

- Telefonnetz: Es muss ein verankertes Grundrecht auf Telekommunikationsmindestversorgung geben. Ein Anschluss inklusive Endgeraet, um Gespraeche entgegenzunehmen und mit begrenztem Kreditlimit Gespraeche zu fuehren, muss zumindest jedem zustehen. Der Anspruch auf diese Mindestversorgung muss Bestandteil des Sozialsystems sein.

- Dienstleistungen wie Telefonberatungen muessen von Privat- anschluessen mit Anonymitaetsgarantie erreicht werden koennen. Das Telefonnetzwerk muss den gestiegenen Datenschutzbeduerfnissen gerecht werden.

(3) betrachtenswerte Modelle: CL (deutschsprachiger Raum), FermiNet (ex-Jugoslawien), GreenNet (GB), XS4ALL (NL),

3. Visionen fuer eine demokratische Informationsgesellschaft - notwendige Massnahmen und Forderungen

- Es bedarf eines europaweiten Akteneinsichtsrechts, das alle Daten offenlegt, die ueber die eigene Person gespeichert sind und einen Loeschungsanspruch enthaelt, um auch nur ansatzweise zu einem informationellen Selbstbestimmungsrecht zu gelangen.

- Publikationspflicht fuer oeffentliche Stellen in allgemein zugaenglichen Netzwerken, gleichberechtigter Zugriff fuer kommerzielle und nichtkommerzielle Netz-Anbieter. Moeglichkeit zur Mitgestaltung und Einflussnahme durch Antworten, Anregungen und eigene Eingaben fuer alle BuergerInnen und Buerger.

- Bevor eine "elektronische Demokratie" als konkretes Projekt angedacht werden kann, ist eine demokratische Informations- gesellschaft Vorraussetzung. Zunaechst muss sichergestellt sein, dass den Buergern gleichberechtigte Moeglichkeiten zur Verfuegung stehen, sich zu informieren und am gesellschaftlichen Leben teilzunehmen, bevor Entscheidungsstrukturen und Wahlen von Staatsebene auf Netzwerke uebertragen werden koennen.